ZWEITE EINSCHÄTZUNG DER WIDERSTANDSVERNETZUNG ZUM AUFLÖSUNGSPROZESS DER PKK
Der eingeleitete Prozess der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) beschäftigt zurzeit alle politischen Bewegungen und erfordert daher eine Einschätzung. Es handelt sich um eine vorläufige Bewertung. Denn die geopolitische Entwicklungen im Mittleren-Osten, Veränderungen sowohl innerhalb der fortschrittlichen Bewegung als auch auf Seiten des Feindes, nehmen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Prozesses. Dies macht eine kontinuierliche Überprüfung und Anpassung notwendig.
– Ausgangslage –
Wir befinden uns in einer weltweiten historischen Phase, geprägt durch Kriege und dem Erstarken faschistischer Kräfte. Die Ereignisse überschlagen sich noch einmal in erhöhter Geschwindigkeit im Mittleren Osten. Der zionistische Staat Israel hat mit Hilfe des US-Imperialismus die Achse des Widerstands deutlich in die Ecke gedrängt, unter anderem durch die Liquidierung eines Grossteils der Hisbollah-Führung und militärischen Schlägen gegen das reaktionäre Mullah-Regime im Iran. Während der Genozid am palästinensischen Volk ungehindert weiter geht, wurde in Syrien das Assad-Regime unter Mithilfe der Türkei, Israel und der USA, durch die Herrschaft von Ahmed al-Scharaa und seiner dschihadistischer Banden ersetzt. Das die HTS-Milizen, die mit den Massakern in Suweida erneut ihre menschenfeindlich-ideologische Nähe zum IS zeigen, eine Vasallen-Funktion für den US-Imperialismus einnehmen, ist schlicht geopolitisches Kalkül: Die regionalen Mächte ringen um ihren geostrategischen Einfluss.
Inmitten dieser zugespitzten historischen Situation sehen wir den Prozess, in dem sich die kurdische Freiheitsbewegung seit Februar dieses Jahres befindet. Im Folgenden wollen wir einige unserer Gedanken darlegen, wie wir versuchen, die aktuelle Situation und Entwicklung zu verstehen und ein Verhältnis dazu zu entwickeln.
– Strategie und Taktik –
Die strategische Stärke, die Entwicklungs- und Anpassungsfähigkeiten der kurdischen Bewegung und ihre unermüdliche Entschlossenheit hat es ihr ermöglicht, über mehrere Jahrzehnte einen erfolgreichen bewaffneten Kampf gegen den türkischen Faschismus zu führen. Das Erkennen von historischen Etappen, die fortlaufende Analyse, die Selbstkritik und Weiterentwicklung – politisch und militärisch – und die daraus resultierende Anpassung der Strategie und Taktik sind wichtige Eckpfeiler dieses Erfolgs. Daher sind Strategien wie der revolutionäre Volkskrieg oder die Guerilla des 21. Jahrhundert aus der Geschichte der revolutionären Bewegungen nicht mehr wegzudenken. Die erwähnten Stärken und militärischen Erfolge haben über die letzten Jahrzehnte des bewaffneten Kampfes zu einer Pattsituation in den Bergen Kurdistans geführt. Diese Pattsituation ist für die kämpfenden Kräfte gegen eine hochentwickelte NATO-Armee als Erfolg einzustufen.
Auf dem 12. Parteikongress im Mai diesen Jahres wurde folgender Beschluss veröffentlicht: «…den organisatorischen Aufbau der PKK aufzulösen und den bewaffneten Kampf zu beenden – und damit die unter dem Namen PKK geführten Aktivitäten einzustellen…». Diese Schritte sind natürlich an Bedingungen geknüpft. Vom türkischen Staat aus, wurden jedoch bis anhin keine substantiellen Schritte in diesem Sinne unternommen. Ausdrücklich zu betonen bleibt, dass die Selbstverteidigung aufrechterhalten wird und eine Entwaffnung der Volksverteidigungskräfte in Rojava nicht zur Debatte steht.
Wir können zur Zeit nicht abschliessend beurteilen, ob ihre Schritte strategischer oder taktischer Natur sind. Fest steht jedoch, dass derartige Schritte in der Geschichte revolutionärer Bewegungen keineswegs neu sind. Sie sind stets von hoher Komplexität geprägt und bergen Risiken, von der Gefahr der Liquidation und dem Verlust der revolutionären Linie bis hin zur vollständigen Aufgabe.
– Revolutionärer Prozess –
Der revolutionäre Prozess vereint in sich zwei Seiten, die militärische und die politisch-gesellschaftliche Seite. Sie stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Das eine kann ohne das andere nicht existieren. Auch wenn sich das Verhältnis dieser beiden Seiten verändern kann, so müssen stets beide vorhanden sein, um den revolutionären Prozess voranzutreiben und um Errungenschaften zu verteidigen.
Der revolutionäre Prozess vollzieht sich zudem in historischen Phasen, die jeweils von unterschiedlichen Widersprüchen geprägt sind und daher eine unterschiedliche Handhabung erfordern. Es ist notwendig, die jeweilige historische Phase zu erkennen, ihre Besonderheiten und Widersprüche zu verstehen und auf dieser Grundlage die eigene Praxis zu bestimmen. Aus diesen Erkenntnissen und Überlegungen müssen die strategischen und taktischen Schritte bestimmt werden.
Taktische Waffenstillstände bis hin zu Waffenniederlegungen waren schon immer Teil des taktischen Repertoires aller Kriegsparteien. Dabei gilt es jedoch zu verstehen, welche Entscheidungen strategischer und welche taktischer Natur sind und in welchem Moment Taktik zur Strategie wird. In der aktuellen Phase geprägt von Imperialismus, Faschismus und Krieg kann aber keineswegs davon gesprochen werden, dass der bewaffnete Kampf an seiner Aktualität verloren hat.
– Rojava und revolutionäre Errungenschaften –
Als revolutionäre Internationalist:innen und als Teil von RiseUp4Rojava waren wir seit Beginn eng mit der Revolution in Rojava verbunden. Dennoch waren wir stets unabhängig von der kurdischen Bewegung. Unserer Meinung nach fusst der revolutionäre Internationalismus auf einer eigenständigen Strategie. Wir entwickelten stets unsere eigene Linie entlang der strategischen Ausrichtung: «Der Hauptfeind steht im eigenen Land» und um den revolutionären Prozess hier voranzutreiben. An dieser strategischen Linie ändert sich für uns nichts. Genauso wie der türkische Faschismus nicht einfach verschwindet, wird internationalistische Praxis, gemäss dieser Linie, weiterhin notwendig und richtig sein. Vorschnelles Urteilen, Schwarz-Weiss-Denken sowie ein daraus resultierender Bruch mit der Bewegung lehnen wir selbstverständlich ab.
Besonders gilt dies für Rojava. Der historische Kampf gegen den IS, der von den Frauen erkämpfte Platz an der Spitze der revolutionären Bewegung, das jahrzehntelange Standhalten gegen die zweitgrösste NATO-Armee und deren Proxys, die Etablierung des revolutionären Volkskrieges in den eigenen Gebieten und das Entwickeln einer Perspektive in einer Welt der Barbarei sind historische Errungenschaften die verteidigt, studiert und weiterentwickelt gehören.
– Sozialismus oder Barbarei –
Wir stehen dem neuen Prozess der Bewegung kritisch aber solidarisch gegenüber. Die Bewegung geniesst unser Vertrauen, dieses hat sie sich über die letzten Jahrzehnte des erfolgreichen Kampfes mehr als verdient und wir haben viel von ihr gelernt. Dennoch sind wir überzeugt, dass keine Errungenschaften und keine historischen Erfolge von den Herrschenden geschenkt, sondern immer erkämpft wurden und auch in Zukunft erkämpft werden müssen. Gerade die kurdische Freiheitsbewegung, die revolutionären Organisationen aus der Türkei, die unzähligen Internationalist:innen und die kämpfenden Völker in Rojava bieten dafür Orientierung.
Widerstandsvernetzung Schweiz, Juli 2025
widerstandsvernetzung.org
SECOND ASSESSMENT OF «WIDERSTANDSVERNETZUNG» REGARDING THE DISSOLUTION PROCESS OF PKK
The initiated process of the Kurdistan Workers‘ Party (PKK) currently engages all political movements and therefore requires an assessment. This is a preliminary evaluation, as geopolitical developments in the Middle East, as well as changes within the progressive movement and on the side of the enemy, can influence the further course. This necessitates continuous review and adjustment.
– Status quo –
We are in a global historical phase marked by wars and the rise of fascist forces. Events are unfolding with even greater intensity in the Middle East. The Zionist state of Israel has significantly cornered the axis of resistance with the help of US imperialism by eliminating much of the Hezbollah leadership and delivering military blows against the reactionary mullah regime in Iran. While the genocide against the Palestinian people continues unhindered, in Syria the Assad regime has been replaced—with the assistance of Turkey, Israel, and the USA—by the rule of Ahmed al-Sharaa and his jihadist militias. The fact that the HTS militias, which again demonstrated their inhumane ideological affinity with ISIS through the massacres in Suweida, act as vassals of US imperialism is simply geopolitical calculation: Regional powers are competing for their geostrategic influence.
Amid this tense historical situation, we observe the process that the Kurdish freedom movement has been undergoing since February of this year. In the following, we aim to outline some of our reflections on how we seek to understand the current situation and its developments, and to establish a perspective on them.
– Strategy and tactics –
The Kurdish movement’s strategic strength, capacity for development and adaptation, and unwavering determination have enabled it to sustain a successful armed struggle against Turkish fascism for several decades. Key pillars of this success include recognizing historical phases, ongoing analysis, self-criticism, and political as well as military evolution, which have all led to continual adjustments in strategy and tactics. Consequently, approaches such as the revolutionary people’s war and 21st-century guerrilla warfare have become integral to the history of revolutionary movements. These strengths and military achievements have resulted, over decades of armed conflict, in a stalemate in the mountains of Kurdistan. This stalemate should be regarded as a significant success for the fighting forces facing a highly advanced NATO army.
At the 12th Party Congress in May of this year, the following resolution was announced: «…to dissolve the PKK’s organizational structure and end the armed struggle… – All activities conducted under the PKK name have therefore been concluded». These steps, of course, are conditional. However, no substantive measures have been taken in this regard by the Turkish state thus far. It must be emphasized that self-defense will be maintained, and that disarmament of the People’s Defense Units in Rojava is not up for discussion.
At this point, we cannot conclusively determine whether these steps are of a strategic or tactical nature. What is clear, however, is that such steps are by no means unprecedented in the history of revolutionary movements. They are always marked by a high degree of complexity and carry significant risks, from the danger of liquidation and the loss of the revolutionary line to the possibility of surrender.
– Revolutionary process –
The revolutionary process encompasses two sides: the military and the political-social. These exist in a dialectical relationship with one another, neither can exist without the other. Even though the balance between these two sides may shift over time, both must always be present in order to advance the revolutionary process and to defend its achievements .
The revolutionary process also unfolds in historical phases, each shaped by distinct contradictions and therefore requiring different approaches. It is essential to identify the specific historical phase, understand its particular characteristics and contradictions, and, on that basis, determine one’s own practice. Strategic and tactical steps must be derived from these insights and considerations.
Tactical ceasefires, even up to disarmament, have always been part of the tactical repertoire of all parties involved in war. However, it is important to understand which decisions are strategic in nature and which are tactical, and at what point tactics turn into strategy. In the current phase, marked by imperialism, fascism, and war, it is by no means accurate to say that armed struggle has lost its relevance.
– Rojava and revolutionary achievements –
We have been closely connected to the revolution in Rojava since the beginning as revolutionary internationalists and as part of RiseUp4Rojava. Nevertheless, we have always remained independent from the Kurdish movement. In our view, revolutionary internationalism is based on an autonomous strategy. We have consistently developed our own line based on the strategic orientation: ‘The main enemy is in our own country,’ and with the aim of advancing the revolutionary process here. This strategic line remains unchanged for us. Just as Turkish fascism does not simply disappear, internationalist practice, in accordance with this line, will continue to be both necessary and correct. We naturally reject premature judgments, black-and-white thinking, and any rupture with the movement resulting from this.
This applies especially to Rojava. The historic struggle against ISIS, the position won by women at the forefront of the revolutionary movement, the decades-long resistance against the second-largest NATO army and its proxies, the establishment of revolutionary people’s war in their own territories, and the development of a perspective in a world marked by barbarism are historic achievements that must be defended, studied, and further developed.
– Socialism or barbarism –
We approach the new process of the movement with critical but supportive solidarity. The movement enjoys our trust, which it has more than earned over the past decades of successful struggle, and we have learned a great deal from it. Nevertheless, we are convinced that no achievements and no historic successes have ever been given by those in power, they have always been fought for and must continue to be fought for in the future. In particular, the Kurdish freedom movement, the revolutionary organizations from Turkey, the countless internationalists, and the fighting peoples in Rojava provide guidance for this.
Widerstandsvernetzung Switzerland, July 2025
widerstandsvernetzung.org