Interview mit Cemil Bayık, Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans – 05.04.2023
Einleitung:
Mit jedem Tag, der vergeht, wird immer klarer, dass das Ergebnis der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in der Türkei die Zukunft des Landes maßgeblich bestimmen wird. Sowohl für die revolutionär-demokratische Kräfte als auch für die Kräfte hinter dem faschistischen Regierungsblock aus Erdogans islamistischer AKP und der „Partei der Nationalistischen Bewegung“ MHP, ist der Urnengang am 14. Mai eine „Schicksalswahl“, wie sie von allen Seiten oft bezeichnet wird. Die Wahl fällt in eine Zeit, in der die Türkei, im hundertsten Jahr ihrer Gründung, mit der vielleicht schwersten Krise in der Geschichte der Republik konfrontiert ist. Die vergangenen acht Jahre des Vernichtungskrieges gegen die revolutionäre Bewegung in Kurdistan und die mit ihr verbündeten demokratischen Kräfte, haben die Wirtschaft des Landes ausbluten lassen. Eine expansionistische und aggressive Besatzungspolitik in der Region sowie die offene Unterstützung dschihadistischer Organisationen wie des Islamischen Staats und Al-Qaidas haben die Türkei außenpolitisch in eine Sackgasse geführt. Aufgrund der ökonomischen und militärischen Abhängigkeiten unfähig sich vom westlichen Machtblock unter Führung der USA zu lösen und gleichzeitig mit dem „eurasischen Block“ der Russischen Föderation liebäugelnd, steht die Türkei zwischen den Fronten, kann weder vor, noch zurück und droht weiter in den Abgrund zu rutschen.
Das schreckliche Erdbeben, das Anfang Februar weite Teile Nord- und Westkurdistans sowie Regionen im Westen Syriens und auch der Türkei heimsuchte, deckte alle Mängel und Missstände erbarmungslos auf und zeigte der ganzen Welt, wie es wirklich um das Regime Erdogan bestellt ist. Die über 50.000 offiziell bestätigten Todesopfer (manche sprechen sogar von weit über 100.000 tatsächlichen Opfern) waren nicht das direkte Ergebnis einer unausweichlichen Naturkatastrophe, sondern in erster Linie Resultat einer seit Jahrzehnten mit den Herrschenden verwobenen und korrupten Bauindustrie, unzureichenden Standards bei Material und Bauaufsicht, skrupellosen Pfuschs aber auch einer völlig maroden Katastrophenvorsorge. Bis heute kämpfen viele Menschen in den betroffenen Gebieten noch immer um ihr Überleben und versuchen auf sich allein gestellt ihre Existenz aus den Trümmern zu retten. Als Reaktion auf die Verwüstungen in weiten Teilen Kurdistans und die sich anbahnende humanitäre Katastrophe, erklärte der Ko-Vorsitzende, der politischen Dachorganisation der kurdischen Freiheitsbewegung, der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Cemil Bayık, eine einseitige „Aktionslosigkeit“ und dass die Guerilla sich auf Akte der Selbstverteidigung im Falle eines Angriffes beschränken würde. Trotz anhaltender türkischer Angriffe auf die Stützpunktgebiete der Guerilla im Süden Kurdistans, sowie auf die befreiten Gebiete Nord- und Ostsyriens, erklärte die kurdische Freiheitsbewegung zuletzt die Aktionslosigkeit bis nach den anstehenden Präsidentschaftswahlen aufrecht erhalten zu wollen. Weniger als einen Monat vor der Wahl, fällt es noch immer schwer zu erahnen, welches Ergebnis der 14. Mai mit sich bringen wird. Die kurdische Freiheitsbewegung hat wiederholt erklärt, dass allein der Stimmzettel den Faschismus nicht besiegen wird, und dass es durchaus möglich ist, dass sich das existierende Regime rund um Erdogan, mit allen Mitteln an die Macht klammern wird.
Die Situation in der Türkei ist äußerst dynamisch und der Ausgang der Wahl, sowie die Ereignisse rund um den 14. Mai, werden die gesamte Region des Mittleren Ostens, direkt und indirekt beeinflussen. Für die revolutionären Kräfte ist es daher umso wichtige, die Situation und jede Entwicklung, genaustens zu verfolgen, zu analysieren, zu bewerten und die richtigen Schritte daraus abzuleiten. Das vorliegende Interview mit Cemil Bayık, ist daher ein äußerst wertvolles Zeugnis, das uns einen tieferen Einblick in die Hintergründe des laufenden Machtkampfes in der Türkei und der Region vermitteln kann und mit bemerkenswerter Klarheit eine revolutionäre Perspektive weit über den Urnengang hinaus aufzeigt.
Bayık unterstreicht mit Nachdruck, die Wichtigkeit der Revolution Kurdistans für die Demokratisierung der Türkei und der Region und auch welch weitreichende Bedeutung die Geschehnisse für die globale revolutionär-demokratische Bewegung haben können. Er erläutert, inwiefern die Situation in der Türkei mit den globalen Verteilungskämpfen zwischen den Imperialisten zusammenhängt. Insofern ist das Dokument vor allem auch für die revolutionäre Bewegung in den kapitalistischen Zentren, eine äußerst wertvolle Lektüre.
Widerstandsvernetzung Zürich 2023